"Jeder hat Angst, wenn er auf der Flucht ist"

Grafik: pixabay 2019
Der sogenannte Flüchtling: Dieser Begriff ist jedem schon einmal über die Lippen gekommen und doch besagt er nur, dass jemand geflüchtet ist.
RealNews hat hinter den Begriff geblickt und mit einer geflüchteten Schülerin gesprochen, die seit rund drei Jahren in Deutschland ist. Da hier eine sehr persönliche Geschichte erzählt wird, hat die Redaktion sich entschlossen, den Namen der Schülerin nicht zu nennen sowie die Ortsnamen zu verändern. Auch das Heimatland wird nicht genannt. 


RealNews: Wie sieht dein Leben in Deutschland zurzeit aus?
Anonym: Manchmal schwer, manchmal einfach, z. B. in der Schule sind Geschichte und Politik echt schwer für mich, weil ich einige Fachbegriffe noch immer nicht ganz verstehe.

RealNews: Wie gefällt es dir in Deutschland?
Was bedeutet es, auf der Flucht zu sein?
Der Artikel nähert sich diesem für viele
unvorstellbaren Thema an.
(Foto: Vanessa Hellemann 2019)
Anonym: Mir gefällt es hier besser als in meinem Heimatland, weil ich hier mehr Rechte habe. Auch wegen der Schule. In meiner damaligen Klasse waren wir 60 Schüler. Die Stühle dort waren zwar größer, aber natürlich kann man nicht mit drei Schülern auf einem Stuhl sitzen – wir mussten das. Im Winter hatten wir keine Heizungen und es war echt kalt und die Fenster waren kaputt. Wegen der Schule - am meisten wegen dieser - bin ich sehr froh, dass wir in Deutschland sind. So eine Chance wie hier habe ich früher nicht gehabt.

RealNewsWie bist du nach Deutschland gekommen?
Anonym: Wir sind nach Deutschland geflohen. In der Situation, in der wir waren, war es schwer: Es war sehr kalt. Ich glaube, es waren -13 Grad. Ich musste meine Schwestern und meinen Bruder wachhalten, weil sie gestorben wären, wenn sie eingeschlafen wären. Ich glaube, ich hatte drei Pullover und zwei Jacken an, aber meine Hände zitterten und meine Zähne klapperten. Auf der Flucht haben uns viele Insekten gebissen und am Ende hatten wir sehr viele Wunden. Meine Schwester war zu diesem Zeitpunkt erst ein Jahr alt. Sie brauchte Milch von meiner Mutter, aber da meine Mutter auch nichts zu Essen und Trinken hatte, konnte sie ihr keine Milch geben. Zwei Tage haben wir Durst gelitten. Wir hatten nichts Anderes als einen Koffer mit Kleidung. Am Ende der Flucht hat uns jemand mit einem Auto abgeholt. Dort haben wir Brötchen, Käse und fünf Flaschen Wasser bekommen. Dass meine Schwestern das miterleben mussten! Sie haben Durst gelitten und geweint. Wir alle haben Angst gehabt. Jeder hat Angst, wenn er auf der Flucht ist.

RealNews: Warum musstest du deine Heimat verlassen?
Anonym: Mein Vater war in meinem Heimatland ein Politiker. Er wollte die Rechte einer Minderheit schützen, hat die falschen Worte benutzt und eine Gefängnisstrafe von acht Jahren bekommen. Meinungsfreiheit gibt es nicht in jedem Land. Wir wollten nicht, dass er ins Gefängnis kommt und deshalb sind wir geflohen.

RealNews: Dein Vater floh vorab, ihr kamt später nach: Was für ein Gefühl war es, deinen Vater wiederzusehen?                  
Anonym: Als wir nach Deutschland kamen, sind wir zuerst nach Ulm gekommen und mein Vater sollte uns von einer bestimmten Straße abholen, die wir erstmal finden mussten. Ich hatte ein Blatt in der Hand, dort stand der Straßenname. Wir konnten ja die Sprache nicht und Englisch konnte ich auch nicht so gut, weil ich 11 Jahre alt war. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich mit den Menschen geredet habe, aber irgendwie habe ich nach der Straße gefragt und hatte Erfolg. Auf einmal stoppte dort ein Wagen vor uns. Als ich dann sah, dass es mein Vater war, bin ich in Tränen ausgebrochen. Es war unglaublich schön.

Realnews: Vor welchen Problemen standest du nach deiner Ankunft an unserer Schule?
Anonym: An dieser Schule nicht so viel, weil ich wegen der Sprache auch weniger Probleme habe. Ich erinnere mich an das Jahr 2015 an einer anderen Schule. Da war ich in der dortigen Sprachklasse und die Schüler aus der normalen Klasse haben uns gemobbt. Keine Ahnung warum. Sie mochten einfach die Menschen, die kein Deutsch reden können, nicht. Vermutlich auch, weil sie Ausländer sind.

Realnews: Kannst du zu Mobbing noch ein Beispiel nennen und es noch erläutern?
Anonym: Ja, z. B. im Sportunterricht konnte ich die Begriffe noch immer nicht und unsere    Sportlehrerin hat uns irgendwas erklärt. Ich wusste nicht, was ich machen soll, und die Schüler aus der Regelklasse haben sich darüber lustig gemacht.                               

Realnews: Hast du mit Vorurteilen zu kämpfen?
Anonym: Ja, das habe ich. Ganz viele Menschen, das habe ich erlebt, haben Vorurteile gegen Ausländer. Wir sind nicht so schlecht, wie einige denken. Wir sind keine bösen Menschen. Einige denken immer an das Schlechte und sagen Ausländer sind böse. Ich sage doch nicht, dass alle Ausländer gute Menschen sind, aber in jeder Nation gibt es schlechte Menschen. Auch manche Deutsche sind schlechte Menschen, z. B. Hitler. Er war ein böser Mensch. Wir alle hassen Hitler. Ich verstehe diese Vorurteile einfach nicht.

Realnews: Wie findest du die Debatte in Deutschland über Flüchtlinge?
Anonym: Haben diese Menschen schon mal mit einem Flüchtling geredet? Wissen sie, was diese Menschen erleben? Manche verlieren ihre Kinder, manche verlieren ihre Eltern. Das ist sehr schwer für die Flüchtlinge. Es ist nicht ihre Schuld, dass manche Menschen ihr Land angreifen. Sie konnten nicht im Krieg leben, deshalb suchen sie Wege, damit sie weiterleben können. Sie haben auch ein Recht, ein gutes Leben zu führen. Deshalb muss man erst die Menschen versuchen zu verstehen und dann kann man urteilen.

Realnews: Hast du Zukunftsträume?
Anonym: Ja, die habe ich! Deutschland ist für mich eine große Chance, weil ich in meinem Heimatland nicht träumen konnte, dass ich vielleicht später eine Universität in London besuche. Das wäre dort finanziell und vom Schulsystem her nicht möglich gewesen. Hier, glaube ich, kann ich mein Abitur machen und dann möchte ich nach London gehen. Ich weiß nicht genau, aber vielleicht komme ich danach wieder nach Deutschland zurück. Wegen dieser Träume ist Deutschland auch eine große Chance für mich.

Realnews: Wie hat dich deine jetzige Klasse aufgenommen?
Anonym: In meinem Heimatland mussten wir oft umziehen und immer, wenn ich in eine neue Klasse gekommen bin, hat mich jeder angestarrt. Hier war das genauso. Manche Klassenkameraden sind echt nett. Manche sind nicht so nett: Aber ich schaff auch das!

Das Interview führte Viktor Steinhauer.